Geschichte ist die Unfallchronik der Menschheit, soll der französische Staatsmann Charles-Maurice de Talleyrand-Périgord einmal gesagt haben. Seit eines Samstags im April 2007, als ich auf einer Geburtstagsfeier in der Nähe von Wolfsburg war, weiß ich, dass man diese Weisheit nicht nur auf die großen historischen Ereignisse beziehen kann. Auch die eigene Vergangenheit bzw. Ahnengeschichte scheint reich an spektakulären Crashs.
     Die Feier fand in jenem Ort statt, in dem einst mein leiblicher Vater das Licht der Welt erblickte. Er verstarb viel zu früh nach einem Motorradunfall im September 1968, weshalb ich zu diesem Ort schon lange keinen Bezug mehr habe und nur wenige der Party-Gäste kannte. Völlig unbekannt waren mir auch die zwei Damen weit fortgeschrittenen Alters, die plötzlich warmherzig lächelnd auf mich zukamen, als ich noch unwissend an meinem Glas Bier nippte. Sie fragten mich, ob ich nicht ein Reichard sei, und ob ich denn nicht wüsste, dass mein Opa den Hauptmann von Köpenick kannte.
     »Wie jetzt? Mein Opa kannte Heinz Rühmann?«, fragte ich erstaunt.
     »Nein, nein«, erwiderten die beiden Damen, rückten verschwörerisch an mich heran und begannen derart geheimnisvoll zu kichern, dass ich mich fühlte wie Cary Grant in »Arsen und Spitzenhäubchen«. »Ihr Opa kannte den echten Hauptmann«, sagten sie, »den Schuster Voigt.«
     Kurzes genealogisches Rechnen. Wann war der berühmte Hochstapler nochmal unterwegs? In der ersten Dekade des 20. Jahrhunderts? War mein Opa zu diesem Zeitpunkt überhaupt schon auf der Welt? Ich wusste es nicht, aber wenn er bereits zu wilhelminischen Zeiten durch die Gegend stolperte, musste er noch ein Kleinkind gewesen sein. Was hatte mein Opa als Knirps im Matrosenanzug mit dem Schuster Voigt zu tun? Verwirrung. Nach einer Weile kamen wir darauf, dass wir nicht von meinem Großvater sprachen, sondern von meinem Urgroßvater, von Otto Winkelmann, dem Vater meiner Oma väterlicherseits.
     »Genau, diesen Otto, den meinen wir«, bestätigten die Damen … und kicherten.
     »Und was genau hatte Otto Winkelmann jetzt mit dem Hauptmann von Köpenick zu tun?«, erkundigte ich mich.
     »Na, er war damals dabei, als der Voigt die Soldaten täuschte und mit ihnen das Rathaus von Köpenick überfiel«, bekam ich als Antwort. »Und als die Geschichte später in den 50ern mit Heinz Rühmann verfilmt und der Film dann zum ersten Mal in Wolfsburg gezeigt wurde, war Otto Winkelmann als Ehrengast eingeladen. Das stand damals in der Zeitung. Daher wissen wir das.«
     Nach dieser überwältigenden Mitteilung gingen die betagten Damen weiter an den nächsten Tisch. Kichernd natürlich. Und ich saß da, ganz allein, eingeschüchtert und gelähmt vom Wissen um die historischen Verstrickungen meines Urgroßvaters. Nur gut, dass er nicht der Frisör von Heinrich Himmler war, dachte ich zuerst. Doch auch wenn er tatsächlich nur einer der Wachsoldaten gewesen war, die sich in der »Köpenickiade« dem falschen Hautpmann angeschlossen hatten, kann sein Auftritt als blinder Befehlsempfänger ja nicht gerade als heldenhaft bezeichnet werden.
     Immerhin, 50 Jahre später kam er dafür einmal umsonst ins Kino.